Länderanalyse 2010: Indien hinter der Elfenbeinküste

by Le Magazine de la Diaspora Ivoirienne et des Ami(e)s de la Côte d’Ivoire | 20 septembre 2010 12 h 43 min

Abidjan
Abidjan

Der Subkontinent ist Entwicklungsland und Wirtschaftsmacht in einem. Das anhaltende Bevölkerungswachstum bringt ihn langfristig in eine günstigere Position als China. Schon jetzt lockt die enorm wachsende Mittelschicht ausländische Investoren ins Land – aus dem Dienstleister wird ein Industriestandort.

NEU-DELHI. Im Januar 2003 auf dem Genfer Autosalon macht der indische Unternehmer Ratan Tata ein kühnes Versprechen. Er werde ein Auto für zweitausend Dollar bauen, bezahlbar für Millionen seiner Landsleute, kündigt Tata an. Die Fachwelt reagiert amüsiert. Unmöglich, lautet das einhellige Urteil. Kein Hersteller schaffe das, erst Recht keiner aus dem technologisch rückständigen Indien.

Sieben Jahre später ist den Spöttern von damals das Lachen vergangen. Denn Tata hat Wort gehalten. Der « Nano », das billigste Auto aller Zeiten, rollt in Serie vom Band. Er ist ein Symbol für Indiens Aufbruch. Mit Riesenschritten stößt das Land in die Liga der führenden Wirtschaftsmächte vor. Russland hat es bereits hinter sich gelassen. Zum Jahresende wird es voraussichtlich Kanada überholen, prognostiziert der Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup in seiner Länderanalyse für das Handelsblatt. Dann ist Indien die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Gerade die Autoindustrie zeigt, wie stark das Land an Bedeutung gewonnen hat. Aus dem belächelten Außenseiter Tata Motors ist ein ernsthafter Konkurrent geworden. Alle internationalen Massenhersteller drängen mit ähnlichen Geschäftsstrategien nach Indien. Sie bauen dort riesige Werke und entwickeln neue, preisgünstige Einsteigermodelle für die wachsende indische Mittelschicht.

Die Autoindustrie spiegelt Indiens wachsende Bedeutung

Auch die deutsche Autobranche setzt heute voll auf den Subkontinent, nachdem sie sich lange auf China konzentriert hatte. Volkswagen hat zu Jahresbeginn ein hochmodernes Pkw-Werk nahe der westindischen Stadt Pune für 500 Mio. Euro fertiggestellt. Mercedes baut eine riesige Lkw-Fabrik im südlichen Chennai. Die deutschen Zulieferer von Bosch bis ZF Friedrichshafen verstärken ebenfalls ihre Präsenz. Es lockt ein Markt, der von Rekord zu Rekord eilt. Allein im August wurden in Indien 161 000 Pkw verkauft, der 19. Monat in Folge mit steigenden Zulassungszahlen.

Kaum ein Land hat die weltweite Krise des Jahres 2008/09 so glimpflich überstanden wie Indien. Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich zwar, aber es brach nicht ein. Für dieses Jahr erwartet Indien schon wieder einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um mehr als acht Prozent.

Diese beeindruckende Krisenresistenz erklärt sich aus Indiens geringer Abhängigkeit vom Außenhandel. Die Wachstumsdynamik speist sich – anders als in China – hauptsächlich aus der Binnennachfrage. In Indien leben knapp 1,2 Milliarden Menschen. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt zwar nur knapp über 1 000 Dollar, womit Indien hinter der Elfenbeinküste und vor Pakistan auf Platz 144 der Weltrangliste liegt. Doch diese Durchschnittswerte verbergen, dass in Indien eine gut ausgebildete Mittelschicht heranwächst, die mit ihrem Nachholbedarf die Konsumgüternachfrage stimuliert.

Die asiatische Entwicklungsbank (ADB) zählt in einer kürzlich veröffentlichten Studie 260 Millionen Inder zur Mittelschicht. Davon gehören zwar zwei Drittel zur unteren Mittelschicht mit täglichen Konsumausgaben von maximal vier Dollar pro Tag. Doch die Gruppe mit einem täglichen Budget zwischen vier und zwanzig Dollar umfasst immerhin fast 90 Millionen Menschen. Für sie gehören Mobiltelefon, Fernseher, Kühlschrank, ein Motorroller und immer öfter auch ein Auto zum Lebensstandard. Die Folge ist ein rasanter Anstieg der privaten Konsumausgaben.

Hinzu kommt Indiens hoher Investitionsbedarf. Weit über 30 Prozent des BIP entfallen auf die Bruttoanlageinvestitionen. Die Industrie baut ihre Kapazitäten aus, um die steigende Konsumnachfrage zu befriedigen. Der Staat investiert in Kraftwerke, Straßen, Häfen und Flughäfen, um Indiens gewaltiges Infrastrukturdefizit zu verringern.

Der Export dagegen trägt nur rund 23 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei. Zwar ist Indiens Einbindung in die globalen Güter- und Kapitalströme im vergangenen Jahrzehnt deutlich gestiegen. Der Offenheitsgrad der Volkswirtschaft, gemessen als Summe aus Exporten und Importen im Verhältnis zum BIP, liegt heute bei etwa 50 Prozent. Andere asiatische Länder haben sich stärker in die internationale Arbeitsteilung integriert: China zum Beispiel hat einen Offenheitsgrad von 60 Prozent. Lange Zeit galt Indiens vergleichsweise niedrige Exportquote als Schwäche. Doch den Schaden durch die globale Wirtschaftskrise hat sie klein gehalten.

Manmohan Singhs Reformen brachten die wirtschaftliche Wende

Den Grundstein für seinen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg legte Indien zu Beginn der neunziger Jahre. Damals entledigte es sich der sozialistischen Selbstbeschränkung, die Staatsgründer Jawaharlal Nehru seinen Landsleuten mit auf den Weg gegeben hatte. Es war zu Anfang kein freiwilliger Schritt. Der Eiserne Vorhang war gefallen und mit ihm die Sowjetunion als wichtigster Wirtschaftspartner. Der erste Golfkrieg brachte die Ölpreise zum Explodieren. Indien stand vor dem Staatsbankrott.

Aus dieser Extremlage heraus leitete der damalige Finanzminister und heutige Premierminister Manmohan Singh die wirtschaftliche Öffnung ein. Ausländische Investoren durften ins Land, Preiskontrollen und Subventionen wurden abgebaut. Wo die Planwirtschaft regiert hatte, herrschte plötzlich der Wettbewerb. Indien erwachte. Aus der « Hindu-Wachstumsrate » von drei Prozent, mit der die Wirtschaft jahrzehntelang dahingedümpelt war, wurden plötzlich sechs Prozent. Seit 2004 wächst das Bruttoinlandsprodukt pro Jahr sogar durchschnittlich um acht Prozent. Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) halten mittelfristig zehn Prozent für möglich, wenn die Regierung den wirtschaftlichen Reformkurs fortsetzt.

Zu diesem Aufstieg habe vor allem der Dienstleistungssektor beigetragen, analysiert Rürup und verweist auf Indiens wettbewerbsfähige IT-Dienstleister. Sie seien das « Back-Office » vieler Weltkonzerne, die ihre Software und Datenströme in Indien verwalten ließen. Damit habe Indien in der globalen Arbeitsteilung eine andere Rolle eingenommen als China, das auf die Industrialisierung setze.

Doch das Bild wandelt sich. Angetrieben von der steigenden Binnennachfrage holt Indiens Industrie auf. Besonders die Branchen Auto, Chemie, Pharma, Telekommunikation, Maschinenbau und Energieversorgung boomen. Inzwischen wächst die Industrieproduktion schneller als der Dienstleistungssektor, auf den allerdings noch immer mehr als die Hälfte des BIP entfällt.

Der deutschen Wirtschaft eröffnet dieser Strukturwandel große Chancen. In Indien kann besonders die Industrie ihre Stärken ausspielen – deutsche Technologie und Ingenieurskunst stehen in der Gunst indischer Kunden ganz oben. Und der Markt dafür wächst rasant. Nahezu alle Prognosen gehen davon aus, dass Indien bis Mitte des 21. Jahrhunderts die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt nach China und den USA sein wird. Als Demokratie ist das Land zudem besser für gesellschaftliche Umbrüche und Verteilungskonflikte gerüstet als viele andere aufstrebende Schwellenländer.

In zwanzig Jahren wird Indien laut den Berechnungen der Vereinten Nationen das bevölkerungsreichste Land der Welt sein. Der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter nimmt zu, während er in China zurückgehen wird. Hier liegt Indiens größte Wachstumschance, zugleich aber auch das größte Risiko. Denn die « demografische Dividende » kann auch zu einem demografischen Alptraum werden. Den Erfolgsgeschichten über die aufstrebende Mittelschicht in den Städten stehen über eine halbe Milliarde Menschen in bitterer Armut gegenüber – das sind mehr als in ganz Afrika.

Nur wenn es der Regierung gelingt, die gravierenden Defizite im Bildungssystem zu beheben, kann Indien sein Arbeitskräftepotenzial im internationalen Wettbewerb tatsächlich ausspielen. Nur dann wird das Wirtschaftswachstum Breitenwirkung entfalten, anstatt die soziale Kluft zu vertiefen. Die Politik hat diese Herausforderung zwar erkannt, bisher aber kaum etwas erreicht. Die staatliche Primärbildung leidet unter vernachlässigten Schulen, schlecht ausgebildeten, unterbezahlten Lehrern und fehlenden Unterrichtsmaterialien.

Wer seinen Kindern keine Privatschule finanzieren kann, hat deren Chance zur Teilhabe am wirtschaftlichen Aufstieg meist schon verspielt. Bei der Universitätsbildung fällt Indien im internationalen Vergleich sogar zurück. In einem aktuellen Ranking des britischen Bildungsinstituts QS haben die meisten Tophochschulen Plätze verloren.

Der hohe Bevölkerungsdruck deckt zudem Indiens eklatante Versäumnisse beim Aufbau einer modernen Verkehrsinfrastruktur und Energieversorgung auf. Völlig überlastete Straßen und Häfen und ständige Stromausfälle beeinträchtigen insbesondere das Wachstum der Industriebetriebe. Der Staat muss in den nächsten Jahren hunderte Milliarden Dollar investieren, um die drohenden Engpässe zu beheben.

Hemmend wirken dabei nicht nur Indiens schwerfällige Bürokratie und die langwierigen Verfahren zum Landerwerb, sondern auch die verglichen mit anderen Schwellenländern hohe Staatsverschuldung von 78 Prozent des BIP. Sie setzt dem kreditfinanzierten Infrastrukturausbau enge Grenzen.

Das Haushaltsdefizit einschließlich der Bundesstaaten betrug im Haushaltsjahr 2009/10 mehr als zehn Prozent des BIP. Sein Abbau gelingt nur mühsam wegen der hohen Ausgaben für Sozialprogramme und Subventionen zur Linderung der Armut.

Verglichen mit den anderen BRIC-Staaten Brasilien, Russland und China hat Indien einen gut entwickelten Finanzsektor, hohes unternehmerisches Know-how und überdurchschnittliches Innovationspotenzial. Trotzdem müssen sich deutsche Investoren auf einen schwierigen Start einstellen. Denn die weiterhin hohe Regulierungsdichte, die ineffiziente und korruptionsanfällige öffentliche Verwaltung sowie das komplizierte Arbeits- und Steuerrecht machen indischen und ausländischen Unternehmen das Leben schwer.

ivoiriens de l'étranger [1]

Im Doing-Business-Index der Weltbank belegt Indien hinter Tansania und Malawi einen blamablen 133. Platz. Der Befund dürfte sich aber bessern, denn langsam aber stetig wird die Wirtschaft weiter liberalisiert. So plant Singh eine Vereinfachung der Verbrauchssteuern und einen Abbau der Beschränkungen für ausländische Unternehmen bei Joint Ventures mit indischen Partnern.

Rürup kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass Indien deutlich mehr Chancen als Risiken für deutsche Unternehmen bietet. Dies gelte sowohl für Exporte auf den Subkontinent als auch für den Aufbau von Produktionsstandorten. Zudem sei Indien wegen seiner verkehrsgünstigen Lage ein guter Standort, um andere asiatische Märkte zu beliefern. Langfristig könne Indien für die deutsche Wirtschaft womöglich sogar bessere Entwicklungschancen als China bieten, urteilt das Vorstandsmitglied des Beratungs- und Analysehauses Maschmeyer Rürup AG. Das etablierte demokratische System stifte politische Stabilität, die Geschäftssprache Englisch erleichtere den Kontakt, das angelsächsische Rechtssystem sei deutschen Unternehmen vertraut und anders als in China werde das geistige Eigentum respektiert.

Demografie: Indien ist im Vorteil

Trotz des nachhaltigen Wirtschaftsaufschwungs herrscht in Indien noch immer Massenarmut. Extreme Gegensätze prägen das soziale Erscheinungsbild des Landes. Nach Schätzungen der Weltbank sind mehr als 40 Prozent der Inder arm. Die hohen Wachstumsraten haben nur wenig dazu beigetragen, die regionalen Entwicklungsunterschiede und das große Wohlstandsgefälle zwischen den wachsenden urbanen Mittelschichten und der überwiegend armen Landbevölkerung zu verringern.

Trotzdem ist die wachsende Bevölkerung und vor allem die Erwerbsbevölkerung ein Trumpf. Zurzeit leben in Indien 1,2 Milliarden Menschen, 200 Millionen mehr als vor zehn Jahren. Nach Projektionen der UNO wird das Land in 20 Jahren China vom Spitzenplatz als bevölkerungsreichster Staat der Erde verdrängt haben. Gleichzeitig wird sich die Bevölkerungsstruktur deutlich wachstumsfreundlicher entwickeln als die Chinas und vieler anderer Schwellenländer.

Der Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung wird in Indien laut UNO in den nächsten drei Jahrzehnten von 64 auf 70 Prozent steigen, während er in China bereits sein Maximum erreicht hat. Nun versucht die chinesische Regierung, über eine Abkehr von der Ein-Kind-Politik der Überalterung entgegenzuwirken. Ein Flickenteppich mit großen Löchern ist in Indien die soziale Absicherung, insbesondere bei der Krankenversorgung. Ende 2008 hat die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das den Hunderten von Millionen, die im informellen Sektor arbeiten, eine Mindestabsicherung gewährleisten soll. Sie will 300 Millionen Gesundheitskarten ausgeben, die den Karteninhabern und deren Familien Ansprüche auf Krankenhausleistungen eröffnen. So soll ein Netz neuer Kliniken aufgebaut werden. Eine Rentenversicherung gibt es erst für rund 50 Millionen Inder, eine Arbeitslosenversicherung noch gar nicht.

Mit handelsblatt.com

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